Häufiges Fernsehen schadet Gleichgewicht

Wissenschaftler erforschen, warum viele Kinder mit geschlossenen Augen nicht richtig stillstehen können

Neurokybernetik – das hört sich kompliziert an. Dieser Zweig der Wissenschaft geht auch der Frage nach, wie sich häufiges Fernsehen und Computerspielen auf unseren Gleichgewichtssinn auswirken.
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Das Kind soll eine Minute lang auf der Messplatte stillstehen. Ein Computerprogramm zeichnet auf, wie stark das Kind beim Stillstehen schwankt. Starkes Schwanken ist ein Hinweis auf ein mangelhaftes Körpergefühl.

Mädchen und Jungen, die sehr viel fernsehen, häufig am Computer oder auf dem Gameboy spielen, haben in der Regel eine schlechtere Körperhaltung als sportliche Kinder. Das gilt bereits im Kindergartenalter. Auf diesen Zusammenhang ist die Wissenschaft erst in jüngerer Zeit gestoßen. Ob ein solches Problem vorhanden ist, lässt sich mit dem Verfahren der Posturographie (Gleichgewichtsmessung) ermitteln. Es handelt sich um eine Messplatte, auf der das Kind barfuß steht. Die Aufgabe ist einfach: Eine Minute lang stillstehen, ohne sich zu bewegen. Kein Mensch jedoch kann völlig stillstehen. Es gibt immer eine leichte, oft nicht wahrnehmbare Körperschwankung. Die Messplatte registriert diese so genannte Grundschwankung und macht sie auf dem Computerbildschirm sichtbar. Würde der Mensch völlig stillstehen, wäre nur ein Punkt zu sehen. Bei Schwankungen jedoch zeigt der Bildschirm eine asymmetrische Fläche. Diese wirkt in der Regel an den Seiten ausgefranst, weil die Körperschwankung in die verschiedenen Richtungen unterschiedlich stark ausgeprägt ist.

Damit ein Mensch stillstehen kann, laufen in seinem Körper komplizierte Prozesse ab. Daran sind Sinneszellen in den Fußsohlen beteiligt. Sie liefern Informationen ins Gehirn (genauer: ins Stammhirn), wenn sie eine leichte Schwankung des Körpers registrieren. Das Gehirn reagiert darauf umgehend und aktiviert über Nervenbahnen die passenden Muskeln – etwa Bein- und Bauchmuskeln –, die die Schwankung ausgleichen sollen. Auch unsere Augen spielen eine wesentliche Rolle beim Stillstehen. Im äußeren Bereich unseres Gesichtsfeldes registrieren wir ständig unbewusst, ob sich unsere Körperposition verändert. Man spricht bei dieser unbewussten Steuerung vom ambienten System (Ambiente = Umgebung). Leichte Schwankungen, die unser visueller Sinn beim Stillstehen wahrnimmt, werden direkt dem Haltungszentrum im Stammhirn gemeldet und durch Aktivierung der zuständigen Muskulatur ausgeglichen.

Neben den Sinneszellen in den Fußsohlen und dem ambienten System unseres Sehsinns ist die Körpereigenwahrnehmung ein drittes System unseres Körpers, das eine wichtige Rolle spielt, wenn wir bewegungslos stehen wollen. Um unseren eigenen Körper wahrnehmen zu können, wertet das Gehirn die Informationen aus, die ständig von den Sinneszellen (Sensoren) in unseren Muskeln, Sehnen, Gelenken und vom Gleichgewichtssinn übermittelt werden. Eine Minute lang stillzustehen, ist nur der erste Teil des Posturographie-Tests. Im zweiten Teil muss die gleiche Übung mit geschlossenen Augen wiederholt werden. Dabei registriert der Computer häufig ein deutlich stärkeres Grundschwanken. Es muss damit zusammenhängen, dass bei geschlossenen Augen das ambiente System, also die visuelle Wahrnehmung, ausgeschaltet ist. Häufiges Fernsehen und Computerspielen kann bei Kindern dazu führen, dass die visuelle Wahrnehmung besonders wichtig für die Bewegungssteuerung wird. Zudem geht langes Sitzen vor dem Fernseher oder Computer mit Bewegungsmangel einher, wodurch die anderen Systeme zur Körpersteuerung – die Drucksensoren in unseren Fußsohlen sowie die Sinneszellen in Muskeln, Bändern und Gelenken und der Gleichgewichtssinn – nicht optimal genutzt werden. Diese vernachlässigten Systeme alleine sind dann bei geschlossenen Augen nicht leistungsfähig genug, den Körper beim Stillstehen gut zu stabilisieren. Die Folge ist eine Grundschwankung, die deutlich ausgeprägter ist als bei Kindern, die sich regelmäßig sportlich betätigen.

„Wenn die visuelle Wahrnehmung bei Kindern gegenüber den anderen Sinneswahrnehmungen dominiert, die auch für die Körperhaltung zuständig sind, ist das keineswegs positiv. Es zeigt vielmehr, dass das Körpergefühl insgesamt schlecht ausgeprägt ist“, erläutert Dr. Oliver Ludwig, der wissenschaftliche Leiter des Kid-Check. „Defizite wirken sich negativ auf alle körperlichen und sportlichen Aktivitäten aus. Die Bewegungen erscheinen unkoordiniert, Spritzigkeit und Eleganz lassen zu wünschen übrig.“

Spaß beim Üben
Gleichgewicht und Koordination, aber auch Kraft sind bereits im Kindergartenalter sehr gut trainierbar. Es ist jedoch wichtig, diese Fähigkeiten bei kleineren Kindern spielerisch zu schulen. So fördert beispielsweise das Klettern an einem Klettergerüst die räumliche Wahrnehmung, trägt zur Kräftigung bei und wirkt sich positiv aufs Koordinationsvermögen aus. Empfehlenswert sind auch meditative Übungen, bei den Kinder in sich hineinhorchen und dadurch ihren Körper spüren können.