Mädchen brauchen Muckis

Für viele Trainer und Sportlehrer ist Krafttraining für Kinder noch immer tabu. Doch die positiven Effekte sind belegt.

Kinder erreichen oft nicht ihre volle Leistungsfähigkeit, weil die Entwicklungsreize während des Wachstums ungenügend oder zu einseitig sind. Das gilt auch für den Haltungs- und Bewegungsapparat: Muskeln und Knochen müssen gezielt beansprucht werden, um sich optimal zu entwickeln. Krafttraining für Kinder ist daher unbedingt sinnvoll.
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Bei Sportarten wie Tennis wird die Muskulatur auf der Schlagarm-Seite durch die intensivere Beanspruchung besser ausgebildet. Bei einem Rechtshänder ist dann zum Beispiel die Muskulatur des rechten oberen Rückens deutlich kräftiger als die der linken Seite. Dadurch wird die Wirbelsäule nach links verbogen. Um dies auszugleichen, ist ein gezieltes Krafttraining empfehlenswert.

Den Körper im Stehen mit nach vorne gestreckten Armen nur eine Minute lang gerade zu halten, gelingt vielen Kindern nicht. Schon nach 20 bis 30 Sekunden weichen die meisten ins Hohlkreuz aus, die Schultern und Arme sinken ab. Den Kindern fehlt einfach die Kraft, sich länger aufrecht zu halten. Ursache dieser Haltungsschwäche ist eine zu schwache Muskulatur, vor allem im Bereich des Rumpfes: Bauch-, Gesäß- und Rückenmuskeln sind gleichermaßen schlapp. Gut 60 Prozent aller Mädchen und Jungen sind heute von Haltungsschwächen betroffen. Das belegt auch das „Kid-Check“-Projekt, bei dem saarländische Ärzte und Wissenschaftler seit Oktober 1999 Kinder und Jugendliche auf Haltungsschwächen und -schäden untersuchen. Die Experten empfehlen bei Haltungsschwächen ein Krafttraining, stoßen damit aber immer noch häufig auf Unverständnis.

Viele Trainer, Sportlehrer und Eltern meinen, ein Krafttraining für Kinder sei sinnlos oder sogar schädlich. Denn noch ist die Auffassung weit verbreitet, der niedrige Anteil an Androgenen – es handelt sich dabei um männliche Geschlechtshormone – im Körper der Mädchen und Jungen sei zu gering, um die Muskeln wachsen zu lassen. Zudem ist das Argument zu hören, ein Krafttraining schädige die noch weichen Knochen, insbesondere deren Wachstumsfugen. Solche Befürchtungen sind jedoch unbegründet. Untersuchungen des Fitness-Spezialisten Dr. Avery Faigenbaum von der Universität in Boston (USA) zeigen, dass kein Kind solche Schäden zu fürchten hat, wenn es ein altersgerechtes Krafttraining absolviert. Die Belastungen beim Krafttraining sind in der Regel geringer als in den meisten Spielsportarten wie Fußball, Handball, Basketball und alltäglichen Bewegungsspielen.

Die Vorteile, die ein Muskeltraining den Kindern beschert, sind riesig. Es trifft zwar zu, dass ein Krafttraining bei Mädchen und Jungen vor der Pubertät keinen deutlichen Zuwachs an Muskelmasse bringt. Doch die Muskulatur wird trotzdem leistungsfähiger, weil sie durch regelmäßige Beanspruchung voll aktiviert wird. Ohne Training liegt ein Teil brach und ist ungenutzt. „Ein Krafttraining verbessert zunächst die Koordination innerhalb des Muskels“, erläutert Dr. Michael Fröhlich, Experte für Krafttraining an der Universität des Saarlandes. „Zudem wird das Zusammenspiel von Muskeln und Nerven optimiert.“ Die Kinder sind dadurch in der Lage, ihre Muskulatur bewusst anzusteuern. Wenn sie beispielsweise stolpern oder stürzen, schützt die blitzschnell gespannte Muskulatur vor Verletzungen.

Dass ein Großteil der Mädchen und Jungen unter Haltungsschwächen leidet, wundert Michael Fröhlich nicht.

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In das Kinder- und Jugendtraining aller Sportarten sollten immer einige Übungen zur Kräftigung der Muskulatur eingebaut werden.

„Früher kletterten die Kinder auf Bäume, waren beim Seilhüpfen zu sehen, rauften miteinander und spielten mit dem Ball. Das war der natürliche Weg, die Muskulatur zu kräftigen.“ Heute beherrscht stundenlanges Sitzen vor Fernsehen und Computer den Alltag vieler Kinder. Damit sich ihre Muskulatur dennoch ausreichend entwickelt, ist ein gezieltes Krafttraining erforderlich. Doch ab welchem Alter können Kinder damit beginnen? Die Experten sind sich einig, dass es nie zu früh, aber oft zu spät ist. „Es ist sinnvoll, die Kraft schon im Kindergarten zu trainieren“, erklärt Michael Fröhlich. Damit sich die kleinen Kinder dabei nicht langweilen, sind spielerische Übungen sinnvoll. Seilspringen zum Beispiel fördert nicht nur das Bewegungsgefühl, sondern ist auch ein gutes Training für die Fuß- und Beinmuskulatur. Die Arme und Schultern werden gekräftigt, wenn sich die Kinder bäuchlings auf einer Langbank mit beiden Händen nach vorne ziehen müssen. Und Klettern an einem Gerüst oder auf einem Baum kräftigt den ganzen Körper.

Kinder haben schon immer gerne gerauft. Im spielerischen Wettkampf mit Gleichaltrigen schulen sie dadurch ihr Reaktionsvermögen, ihr Körpergefühl und natürlich ihre Kraft. Seit zwei Jahren steht Ringen offiziell auf dem Lehrplan für den Sportunterricht an saarländischen Gymnasien. Im kommenden Schuljahr wird Ringen auch an den Grundschulen auf dem Plan stehen. Paul Schneider, Schulleiter an der Grundschule Köllerbach und Landestrainer für den Nachwuchs, hat mit Ringen im Unterricht nur beste Erfahrungen gemacht. „Da Mädchen und Jungen gegeneinander kämpfen, lernen sie auch, sich gegenseitig besser einzuschätzen. Mädchen sind nämlich keineswegs schwächer oder ungeschickter als Jungen. Das aber ist in vielen Köpfen noch immer nicht verankert.“ Die Wissenschaft weiß seit langem, dass bis zur Pubertät keine Kraftunterschiede zwischen Mädchen und Jungen festzustellen sind. Erst danach steigt bei den Jungen die Menge des Hormons Testosteron im Blut deutlich stärker an als bei Mädchen. Das beschert den Jungen bei entsprechendem Training ein vermehrtes Muskelwachstum. Das heißt nun nicht, dass ein Krafttraining für Mädchen nach der Pubertät sinnlos ist. „Genau das Gegenteil trifft zu“, erläutert Michael Fröhlich. „Mädchen und Frauen sollten regelmäßig ihre Kraft trainieren, weil ein stabiles Muskelkorsett im Alltag und vor allem beim Sport die Körperhaltung stabilisiert sowie Knochen und Gelenke schützt.“ Vor allem ist regelmäßige sportliche Betätigung die beste Medizin, dem Knochenschwund (Osteoporose) im Alter vorzubeugen, an dem in Deutschland bereits sechs Millionen Menschen leiden.

Studien der Sportwissenschaftler an der Universität Bayreuth belegen, dass Kinder schon vor der Pubertät in hohem Maße von einem Muskeltraining profitieren. Nach zehn Wochen Training an sieben Maschinen mit zwei Einheiten pro Woche hatten die 90 teilnehmenden Mädchen und Jungen gut 30 Prozent Kraft mehr als vorher.

Auf einen Blick
Fürs Kinderkrafttraining gilt: Kinder dürfen an Maschinen trainieren, wenn diese sich auf ihre Größe einstellen lassen. Es wird mit leichten Gewichten, aber hohe Wiederholungszahlen gearbeitet. Das Kind sollte das Gewicht mindestens 20-mal bewältigen können. Empfehlenswert sind zwei Trainingseinheiten pro Woche mit jeweils drei Durchgängen pro Übung oder Gerät. „Bei jeder Art von Krafttraining mit Kindern sollte vermieden werden, dass Gewichte über den Kopf bewegt werden“, warnt der Sportwissenschaftler Dr. Michael Fröhlich. „Das vermeidet eine zu hohe Druckbelastung auf das Skelett, vor allem auf die Wirbel und Bandscheiben.“ Der Experte für Krafttraining nennt weitere wichtige Punkte: „Es sollte vielseitig trainiert werde, einseitige Belastungen sind zu vermeiden. Außerdem sind dynamische Übungen zu empfehlen, bei denen der Körper in Bewegung ist. Statische Übungen hingegen, bei denen eine Position lange gehalten wird, wirken sich ungünstig auf den Blutdruck aus, weil die Kinder bei Anstrengung dazu neigen, die Luft anzuhalten.“