Dicke Eltern, dicke Kinder

Es gibt eine erbliche Veranlagung für Übergewicht. Die Hauptgründe sind jedoch falsche Ernährung und Bewegungsarmut.

Übergewicht – ein Leid für die Hälfte aller Deutschen, Schrecken der Ärzte und Ernährungsforscher. Trotz Fitnesswahn und Schlankheitskult schwellen die überflüssigen Fettpolster weiter und ruinieren
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Der Experte für Stoffwechselerkrankungen im Kindes- und Jugendalter, Dr. Tillmann Rohrer von der Kinderklinik der Universitätskliniken Homburg, untersucht eine junge Patientin.

Gesundheit, Lebensqualität und Selbstbewusstsein der Betroffenen. Alarm schlagen die Forscher in letzter Zeit zunehmend, wenn es um die Kinder geht. In Deutschland ist jetzt bereits jedes fünfte Kind zu dick. Nach Angaben des medizinischen Informationsdienstes „Grünes Kreuz“ werden diese Zahlen steigen. Zudem heißt es, dass sich bei 80 Prozent der dicken Kinder der „Babyspeck“ hält. Wer also in der Schule schon mit Spottnamen wie „Pummel“ oder „Dicker“ bedacht wurde, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Leben lang mit seinem Gewicht kämpfen.

Unklar ist noch, in welchem Maße einerseits erbliche Veranlagung und andererseits Lebensumstände die Entstehung von Übergewicht bei Kindern beeinflussen. Zum einen gilt wohl, dass „der Apfel nicht weit vom Stamm fällt“, übergewichtige Eltern also häufiger dicke Kinder haben. Einen Beitrag zur Untersuchung der Fettsucht in Familien lieferte Dr. Petra Platte vom „Forschungszentrum für Psychobiologie und Psychosomatik“ der Universität Trier. Drei Jahre lang lebte sie in der Gemeinschaft der Amish-People in Pennsylvania, USA. Angehörige dieser Glaubensgemeinschaft waren im 18. Jahrhundert aus Deutschland und der Schweiz nach Amerika übergesiedelt. Ihre Nachfahren leben heute wie damals, nutzen keine moderne Technik, leben von der Landwirtschaft. Die Amish-People sind genetisch isoliert, da Ehen nur innerhalb der Gemeinschaft geschlossen werden. Eine Familie hat durchschnittlich sieben Kinder, alle Amish haben denselben sozialen Status, niemand quält sich mit Schlankheitskuren – ideale Forschungsbedingungen.

Auffällig war zunächst, dass die Amish ebenso häufig fettleibig sind wie die Deutschen. Obwohl sie Tag für Tag im Ackerbau und Haushalt schuften, also körperlich viel aktiver sind als ein Normalbürger in Deutschland. Petra Platte untersuchte 3000 Mitglieder von 17 Großfamilien. Es stellte sich heraus, dass dicke Amish-People tatsächlich meist dicke Kinder und dicke Geschwister haben. Nach Meinung der Forscherin sind der Grund jedoch nicht die Gene allein. Überernährung und fettreiche Kost müssten noch hinzukommen.

In unserer Gesellschaft, die keine Gleichschaltung der Lebensumstände wie bei den Amish-People kennt, geht das Rätseln um die Wurzeln von Übergewicht noch weiter. Eine Studie des Soziologen Dr. Reinhard Wittenberg von der Universität Erlangen-Nürnberg ergab, dass der soziale Status eines Kindes eine Rolle spielt. An vier Nürnberger Hauptschulen wurden 324 Kinder untersucht. Fast 80 Prozent waren normalgewichtig, fünf Prozent unter- und über 15 Prozent übergewichtig. An zwei Schulen mit schlechterer Sozialstruktur der Schüler waren jedoch anteilig viel mehr Kinder übergewichtig als in den zwei anderen Schulen mit insgesamt sozial besser gestellten Schülern. Das Geschlecht der Kinder oder die Nationalität spielten hingegen keine Rolle. Wittenberg sieht mehrere mögliche Gründe für den beobachteten Zusammenhang zwischen niedrigem Sozialstatus und Übergewicht. Zum einen liege es wohl am Unwissen über Zusammenhänge zwischen Ernährung und Gesundheit. Zum anderen spielten schlanke Schönheitsvorbilder keine so große Rolle, und schließlich sei in ärmeren Familien oftmals weder Zeit noch Geld vorhanden, um frisches Obst oder Gemüse einzukaufen und zu verarbeiten. Trotzdem warnt Wittenberg davor, die Verantwortung für Gesundheit und Ernährungsverhalten alleine den Eltern zuzuweisen. Der Staat könne, zum Beispiel über die Schulen, zumindest ausgleichend wirken. Und in einem Punkt seiner Untersuchung schnitten die Schulen gar nicht gut ab: Nur an fünf von 23 Nürnberger Hauptschulen werden, so Wittenberg, im Pausenverkauf gesunde Nahrungsmittel angeboten. Er fordert nicht nur ein Tabu für Süßigkeiten und Limo, sondern auch für weiße Brotsorten und Wurst. Stattdessen sollten die Regale mit Vollwertprodukten, Obst, Gemüse, Tee und Milch gefüllt werden. Zudem müsse das Thema Ernährung Einzug in den Unterricht halten.