Propriozeption: Von der Kunst den eigenen Körper wahrzunehmen


Die Entstehung einer Haltungsschwäche (Rundrücken, Hohlkreuz, hängende Schultern, O-Beine) lässt sich nicht nur durch schwache oder schlecht gedehnte Muskeln erklären – wie in medizinischer Fachliteratur immer noch zu lesen ist. Neuere Forschungen zeigen ganz klar: Eine gute Körperhaltung hängt auch davon ab, dass unser Nervensystem die Muskulatur zielgerichtet, genau dosiert und in einer festen zeitlichen Reihenfolge aktiviert. Nur dann können wir unsere Körperhaltung überhaupt aufrecht halten. Daher müssen Haltungsschwächen nicht nur orthopädisch, sondern auch neurologisch betrachtet werden. Da das Zusammenspiel der Muskeln davon abhängt, wie gut das Gehirn die Sinnesinformation aus dem Körper nutzt, sprechen wir auch von einer neuro-kybernetischen Betrachtungsweise (Kybernetik = Lehre von der Regelung von Messgrößen).

Körperhaltung ist niemals unbewegt, sondern immer ein dynamischer (also sich ändernder) Gleichgewichtszustand. Das heißt, selbst wenn wir ruhig stehen, schwankt der Körper ein wenig. Wenn orthopädische Schwächen auftreten, wie zum Beispiel Hohlrücken, Rundrücken, Beckenvorkippung (Hohlkreuz), ist oft auch die optimale Regelung der Körperhaltung durch das Gehirn aus dem Gleichgewicht geraten. Ob und in welcher Form der Körper eine gute Halteposition aufrecht erhalten kann, hängt nicht nur von der Muskelkraft ab, sondern vor allem von der Aktivierung bestimmter Muskelgruppen durch das Nervensystem. Dafür sind in besonderem Maße Gruppen von Nervenzellen im Mittelhirn zuständig. Deren korrektes Zusammenspiel hängt wiederum davon ab, wie sie von den Sinneszellen (Sensoren) in Haut, Muskeln, Sehnen und Gelenken sowie dem Gleichgewichtsorgan mit genauen Informationen über die Stellung der Gelenke und Spannung der Sehnen und Muskeln versorgt werden. Weitere für die Körpersteuerung wichtige Informationen steuern unsere Augen (visuelles System) bei. Arbeiten diese Nervenzellgruppen nicht gut zusammen, funktioniert also die Verarbeitung der Sinnesinformation nicht optimal, so können bestimmte Körperpositionen gar nicht erst eingenommen beziehungsweise nicht gehalten werden.

Für die Beurteilung einer Haltungsschwäche ist es daher wichtig zu wissen, ob die Körpereigenwahrnehmung (Propriozeption) gestört ist, ob die Muskelkraft unzureichend ist oder ob angeborene Schwächen vorliegen.

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Haltungsregelung

Haltung zu untersuchen, ist schwer
In der ärztlichen Untersuchung wird meist nur die momentane Körperhaltung eines Kindes geprüft. Diese schwankt aber, wie Untersuchungen der Kid-Check-Arbeitsgruppe belegen, sehr stark im Laufe eines Tages, je nachdem, wie ermüdet das Kind ist, wie motiviert es ist und wie gut sein Körpergefühl ausgeprägt ist.

Daher ist es schwierig, von einer einmaligen Untersuchung auf eine Haltungsschwäche zu schließen. Dies ist nur in besonderen Ausnahmefällen möglich, nämlich wenn die Körperhaltung bereits krankhaft verändert ist, also ein Haltungsschaden vorliegt.

Um bei einer Haltungsuntersuchung eine wirklich wiederholbare (reproduzierbare) Haltung herbeizuführen, hat es sich bewährt, haltungsschwachen Kindern und Jugendlichen eine optische Rückmeldung ihrer Körperhaltung per Bildschirm zu geben. Reproduzierbare Ergebnisse lassen sich erzielen, wenn die Kinder und Jugendlichen aufgefordert werden, eine Position aktiv einzunehmen und sie sich dabei per Video-Kamera selbst auf einem Bildschirm beurteilen können (Video-Feedback). Körperhaltung kann man daher nach Erkenntnissen des Kid-Check-Teams nicht als Momentzustand sehen, sondern als einen ständig ablaufenden Regulierungsvorgang, bei dem beurteilt werden muss, in welcher Qualität die Nerven den Einsatz der Muskulatur regeln.

Haltungsschwächen treten auf, wenn das Zentralnervensystem nicht in der Lage ist, aus der Vielzahl der eingehenden Sinnessignale die wichtigen auszufiltern, diese korrekt zu bewerten und danach die Haltemuskulatur gezielt zu steuern. Das Zusammenspiel der Muskulatur nennt man in der Neurologie auch „motorisches Programm“.

Wann arbeitet die Muskulatur korrekt?
In der klassischen Medizin werden für Haltungsschwächen oft verkürzte Muskeln wie die Hüftbeugemuskeln, die das Becken mit den vorderen oberen Oberschenkeln verbinden (M. iliopsoas), oder abgeschwächte Muskelgruppen wie die gerade Bauchmuskulatur (M. abdominalis) verantwortlich gemacht. Allerdings haben einige Arbeitsgruppen in Deutschland keine Zusammenhänge zwischen Muskelschwächen und Haltungsschwächen finden können (Arbeitsgruppe Klee, Arbeitsgruppe Kid-Check).

Erklärungen wie schwache oder verkürzte Muskeln sind eigentlich weniger wichtig, wenn Haltungsschwächen beurteilt oder behandelt werden sollen. Natürlich muss ein Muskel ausreichend geschmeidig sein und über ausreichende Energievorräte verfügen, um die notwendige Kraft erzeugen zu können, die zur Stabilisierung eines Körperteiles gebraucht wird. Daher ist ein muskuläres Aufbautraining zur Haltungsschulung sinnvoll. Dennoch wird die Muskelkraft letztlich durch eine exakte Ansteuerung durch das Zentralnervensystem erzeugt. Der stärkste Muskel nützt zur Haltungsregelung nichts, wenn er nicht zielgerichtet eingesetzt wird. Ähnlich kritisch muss man es bewerten, wenn Haltungsschwächen auf „verkürzte“, schlecht gedehnte Muskeln zurückgeführt werden. Sicher ist es wichtig, die Muskulatur geschmeidig zu halten, um eine optimale Beweglichkeit der Gelenke zu garantieren. Alleine reicht dies für eine stabile Körperhaltung allerdings nicht aus.

Wie sollte Körperhaltung bewertet werden?
Wenn Haltung untersucht wird, muss man nach Auffassung des Kid-Check-Experten stets zwei Anteile betrachten:
1. Betrachtung der anatomisch-mechanischen Komponente und der Muskelkraft (statischer Anteil)
Als Beispiel hierfür sei neben der Analyse der Rückenform (liegt ein Rundrücken oder Hohlrücken vor?) der Amvorhalte-Test (Matthiass-Test, nach dem Arzt Matthiass, 1966) genannt. Der Matthiass-Test kann, da er über einen Zeitraum von 30 bis 60 Sekunden ausgeführt wird, eine Aussage darüber erlauben, ob die Kraft der Rumpfmuskulatur ausreicht, den Körper aktiv in der Ausgangsposition zu halten. Ein Rückschluss auf einzelne Muskeln ist hingegen nicht möglich. Zur muskulären Ermüdung (wenn die Energievorräte zur Neige gehen) kommt noch die neuronale Ermüdung hinzu (wenn die Ansteuerung der Muskulatur schlechter wird), so dass der Aussagegehalt dieses Tests durchaus auch kritisch gesehen werden muss (Winchenbach 2003, Klee 1996).

2. Betrachtung der neurologisch-regulativen Komponente (dynamischer Anteil)
Hierfür schlägt die Kid-Check-Arbeitsgruppe einen Vergleich der aktiven Haltung mit geöffneten und anschließend mit geschlossenen Augen vor. Nimmt eine Versuchsperson eine aktive aufgerichtete Haltung ein, so regelt das Gehirn die Körperposition zunächst bewusst. Zur Haltungskorrektur nutzt das Gehirn zusätzlich zu den Sinnesinformationen aus dem Körper (Propriozeption) den Gesichtssinn, der die Umgebung wahrnimmt. Schließt der Proband nun die Augen und verschlechtert sich seine Haltung dann deutlich, so kann man daraus schließen, dass im Alltag die optische Wahrnehmung (über die Augen) dominiert, also verstärkt zur Kontrolle der eigenen Körperhaltung eingesetzt wird. Die Körpereigenwahrnehmung (durch die Sinneszellen in Haut, Muskeln, Sehnen, Gelenken sowie das Gleichgewichtsorgan) spielt bei solchen Probanden dann nur eine untergeordnete Rolle. Fällt die optische Information wegen der geschlossenen Augen nun aus, so reichen die Signale aus dem Körper selbst alleine nicht aus, um eine stabile Haltung zu bewahren.

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Junge mit Schwächen in der Körpereigenwahrnehmung. Die aktive Haltung (Mitte) verschlechtert sich wieder, sobald er die Augen schließt (rechts).

Die Änderung in der Körperhaltung lässt sich objektiv und wiederholbar mit der so genannten digitalen Haltungsanalyse (zum Beispiel Corpus-System) messen. In dem in der Grafik gezeigten Beispiel kann man eine Störung der Haltungsregelung feststellen und vermuten, dass das visuelle System (der Gesichtssinn) zu sehr im gesamten „Orchester“ der Sinnesinformation dominiert. Das Gehirn nutzt zur Regelung der Körperposition offensichtlich vor allem den Gesichtssinn, während Signale der Körpereigenwahrnehmung nur einen untergeordneten Beitrag leisten. Fällt die optische Information nun weg, so reichen die propriozeptiven Sinnesinformationen, die vom Gehirn ja nur schwach bewertet werden, nicht aus, um die Körperposition aufrecht zu halten. Um die Haltung zu verbessern, müssen in diesem Fall vorrangig die Gleichgewichtsfähigkeit und die Körpereigenwahrnehmung trainiert werden. Ein reines Training der Muskelkraft und eine Verbesserung der Dehnbarkeit würden in diesem Fall ins Leere zielen.

Kann eine Person eine aktive Körperhaltung nicht bewusst einnehmen, so ist dies zunächst kein Hinweis auf eine zu schwache Muskulatur, sondern auf ein Defizit in der Körperwahrnehmung. Sie kann Teile der Haltemuskulatur nicht bewusst ansteuern, weil die gezielte Ansteuerung der Muskulatur (motorische Programme) unzureichend ist. Auffällig ist, dass auch in solchen Fällen eine Haltungsaufrichtung oft möglich wird, wenn sich der Proband selbst sehen kann, zum Beispiel in einem Spiegel oder über einen Monitor. Dadurch erhält das visuelle System einen zusätzlichen starken Reiz.

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2-Stufen-Modell der Haltungsdiagnostik nach Ludwig und Schmitt. Das vorgeschlagene Verfahren beinhaltet orthopädische und neurologische Aspekte und erlaubt eine Differenzierung der Haltungsdefizite.

Um Haltungsschwächen daher ganzheitlich zu betrachten, schlägt das Kid-Check-Team einen zweistufigen Vergleichstest mit geöffneten und geschlossenen Augen vor, der orthopädischen und neurologischen Sichtweisen gerecht wird.

Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift "Haltung und Bewegung" publiziert. PDF-Download: "Neurokybernetik der Körperhaltung"